Vernissage Heidi Hielscher/ 21.02.2016 BZA Art-Galerie am Schloss Einführung von Sigrid Weyers, M. A.
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren!
Manche von Ihnen kennen mich von Vernissagen, die als Rundgänge durch die zu eröffnende Ausstellung gestaltet werden. Eine solche Führung ist in diesen Räumlichkeiten und mit einer so großen Gruppe leider nicht möglich. Aber gerade deshalb möchte ich Sie einladen zu einem virtuellem Rundgang durch die aktuelle Ausstellung in der ART-Galerie. Bitte, folgen Sie mir und tauchen Sie ein in die Bildwelt von Heidi Hielscher.
Wir beginnen mit einem Exponat, das vor mehr als zehn Jahren entstand und lenkt unseren Blick auf ein bis heute prägendes Anliegen der Künstlerin. „Norden“ ist ein Bild im Bild und mag so als Sinnbild für die Ausstellung gelten. Die Künstlerin möchte Einblick gewähren in ihr Werk, Einblick in ihre Gedanken und uns zum Schauen, zum Betrachten anregen.
Die zwei Skulpturen in diesem Raum nehmen das angesprochene Rahmenmotiv auf, übersetzen es in die dritte Dimension, in eine räumliche Darstellung. Sie sind aus Holz, aus alten Balken gearbeitet, denen Heidi Hielscher mit der Kettensäge eine neue Gestalt gab. Entstanden sind zwei schlichte, geometrisch inspirierte Formen, beide mit einer Öffnung im Zentrum versehen. Beide Objekte sind in Weiß gefasst und erinnern mit ihrem archaischen Ritzdekor aus Linien, die sich zuweilen zu geheimnisvollen Zeichen verdichten, an frühgeschichtliche Plastiken oder Höhlenmalereien.
Ein Blick zurück zu den Wurzeln der Menschheitsgeschichte? Eine aus der fernöstlichen Philosophie gespeiste Konzentration auf das Wesentliche? In jedem Fall eine Aufforderung an uns, genauer hinzuschauen, uns einzulassen auf Unbekanntes und unserer Phantasie freien Lauf zu lassen. Oder wie Otto Dix sagte: Trau deinen Augen!
Anregungen dazu erhalten wir in den folgenden Räumen durch zwei weitere Skulpturen, sie führen diesen Gestaltungsansatz weiter, finden zugleich neue Variationen im Ausdruck:
Fundstücke – objets trouvés – wie eine Pflugschar oder die Figur eines Fensterladenhalters sind in die plastische Gestaltung eingearbeitet. Sie werden aus ihrem alten Bedeutungszusammenhang herausgelöst, werden neu in Szene gesetzt, lassen vor unserem inneren Auge neue Bilder, neue Deutungen entstehen. So knüpft die Pflugschar an biblische Motive an:
Beim Propheten Micha heißt es in Mi 4, 3–4:
Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Ländern. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.
Eine Vision, wie sie aktueller nicht sein könnte.
Die subtile Wirkung der Gestaltung kommt bei Heidi Hielschers Skulpturen noch an anderer Stelle zum Tragen. Die Öffnung nimmt in ihrer Kontur die Faserstruktur des Holzes auf, die Farbgebung orientiert sich am natürlichen Holzton. Hier setzt die Künstlerin auch Feuer als Gestaltungselement ein, Brandspuren zeichnen das Holz.
Holz ist ein vergängliches Material, der natürliche Zerfallsprozess wird durch das Feuer beschleunigt. Das Feuer zerstört die Materie, hinterlässt Lücken, verkohltes Holz und Asche. Zurück bleibt ein Symbol der Vergänglichkeit und des Wandels, nachzuvollziehen an den Verformungen des ursprünglichen Objekts und einer neuen farblichen Fassung.
Damit rücken wir als Betrachter wieder in den Blickpunkt. Hinschauen, Wirkung zulassen, wahrnehmen, würdigen – das sind die Grundvoraussetzungen für künstlerisches Arbeiten und Kunst. Dies gilt für die Kunstschaffende ebenso wie für ihr Publikum. Wir sind Teil des künstlerischen Prozesses.
Wenden wir uns nun der Malerei zu. Um uns herum ziehen kräftige Farben unsere Blicke auf sich. Wir tauchen ein in Farbräume, erleben Farbe in ihrer sinnlichen Qualität, als Sprache der Seele: mal umfängt uns kühles Blau, mal wärmendes, feuriges Orange und Rot. Im Spiel von Licht und Dunkelheit erleben wir die Weite imaginärer Landschaften, die die Künstlerin Schicht um Schicht aufgebaut hat. Sie steigert die Materialität der Farbe durch Beimengungen von Sägemehl, Hobelspänen oder Eisenfeilspänen, lässt ihre Bilder so in den Raum hineinwachsen – Sedimente der Erinnerung an Erlebtes.
Betrachten wir die Arbeit zwischen den beiden Durchbrüchen. Wieder finden sich Spuren der Vergänglichkeit. Die eingearbeiteten Eisenfeilspäne sind verrostet – ein
Prozess, den die Künstlerin bewusst in Gang setzte. Eisen verändert dabei seine Beschaffenheit, wird porös, verliert an Masse, verändert seine Farbe, verändert die Beschaffenheit und den visuellen Eindruck der Farbe im Bild. Mit dem Rosten setzt ein Wandel ein, der langsam, fast unmerklich den Charakter des Materials verändert. Das ursprünglich „eisenharte“ Material bricht am Ende, es zerfällt – und gerät so unversehens zum Memento Mori – Bedenke, dass du sterblich bist! Es verweist damit nicht nur auf die Verletzlichkeit selbst des scheinbar Starken, sondern auf die Vergänglichkeit aller Dinge – und des Menschen.
Vergänglichkeit und Wandel liegen dicht beieinander. Hermann Hesse hat dies in einem Gedicht beschrieben, dass Heidi Hielscher schon lange begleitet und in ihrem künstlerischen Schaffen inspieriert:
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
(Hermann Hesse) Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm´ Abschied und gesunde!
Leben ist steter Wandel, ist Bewegung. Gewöhnung lähmt, bedeutet Stillstand. Jeder von uns kennt solche Momente, solche Phasen aus seinem Leben, in seinem Alltag. Nicht immer wird uns dies bewusst, oft spüren wir nur Langeweile, Unzufriedenheit oder eine unerklärliche, innere Unruhe, die nicht vergehen wollen. Unser Leben gerät ins Stocken. Überwinden wir diesen Zustand, finden wir eine neue Inspiration – einen neuen Zugang zu unserem Leben, unserer Arbeit, unserem Partner – oder ein neues Ziel, eine neue Vision, die wir anstreben, kommt wieder Bewegung in unserer Leben.
Wir haben auf unserem Weg eine neue Stufe erreicht und können weiter vorangehen.
Dem Sinnbild der Treppe für den eigenen Lebensweg widmete Heidi Hielscher eine Bildserie. Immer wieder hat sie das Motiv aufgegriffen, es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Mal erscheint es als lange Abfolge von Stufen, mal wird ein kleiner Abschnitt ganz nah herangerückt. Dabei spielt sie mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten, die die Stufen und damit den Lebensweg stets in einem anderen Licht erscheinen lassen. Mal führt die Treppe hell erleuchtet durch die Dunkelheit, der Weg ist klar, mal sind einzelne Passagen verschattet, wir sind unsicher, zweifeln.
Immer aber zeigt sie nur einen Ausschnitt, Anfang und Ende entziehen sich dem Blick. Damit gibt die Künstlerin einen weiteren Hinweis: vieles auf unserem Lebensweg entzieht sich unserem Blick, manches aus der Vergangenheit haben wir vergessen, anderes verdrängt, und die Zukunft können wir nicht vorhersagen. Wie der Betrachter des Bildes können wir nur darüber spekulieren, wohin der Weg, die nächste Stufe führen wird. „Nur wer bereit ist zu Aufbruch und Reise“ gelangt auch zu der Erkenntnis über die nächste Stufe. Die Chance, diesen Weg zu gehen, zu neuer Erkenntnis zu gelangen, wird uns durch das Leben immer wieder neu gegeben – Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden… Wohlan denn, Herz, nimm´ Abschied und gesunde!
Wenn unser Leben stetem Wandel unterworfen ist, wo ist dann unsere Heimat? Diese
Frage stellte sich der Künstlerin in der eigenen Biografie mit existenzieller Wucht. Die
Flucht aus der DDR, dem Vater folgend, bedeutete Ende der 50er Jahre für die 16jährige der Verlust aller Vertrautheit mit Menschen, Orten und Ereignissen, die bis dahin ihr Leben geprägt hatten. Das verlorene Heimatgefühl, die Sehnsucht nach den Menschen und Orten der Kindheit, nach einem neuen Ort, der dem Leben Geborgenheit gibt, floss ein in ihre Wald- und Baumbilder.
Der Wurzelgänger lockt mit impressionistischem Farbenspiel, sein mächtiger Stamm verheißt Beständigkeit, zwischen seinen starken Wurzeln öffnen sich Höhlen, die Schutz gewähren. Die Kiefer reckt sich weithin sichtbar an einem klaren, tiefblauen See dem Himmel entgegen, stolz und trotzig hält sie dem Sturm stand, streckt ihre Äste ungehindert in alle Richtungen aus. Lichtdurchflutete Wälder laden ein, sie zu durchwandern. Ihre Stämme geben einander Halt, das Dach ihrer Baumkronen bietet Schutz, der Duft von Erde und moderndem Laub liegt in der Luft, die Weite des Himmels lockt am Horizont. Bilder, die beim Betrachten romantische Gefühle in uns wach werden lassen: Wer hat dich du schöner Wald aufgebaut so hoch da droben … Aber das Idyll ist bedroht – nicht zuletzt durch eben jene Menschen, die es gerade noch träumerisch bewunderten. Feuer vernichtet das Leben, kahle Stämme recken auf verbrannter Erde ihre nackten Äste in den Himmel – Brandrodung verspricht kurzfristig eine lukrativere Zukunft als schwelgerische Naturerlebnisse. Memento Mori – Bedenke, dass alles um dich herum zerbrechlich ist – und du mit ihm.
Die Vernichtung des Lebens thematisiert Heidi Hielscher in einer großformatigen, zweiteiligen Arbeit, das die Längsseite des nächsten Raumes beherrscht. Die linke Bildhälfte wird von einem Gleisbett diagonal durchschnitten, links und rechts davon, auf die zweite Bildhälfte übergreifend, überwuchern architektonische Strukturen die Bildfläche. Fenster und Türen, Mauern und Dächer türmen sich übereinander. Die untere Bildhälfte ist in dunklen Farben gehalten, die Türen und Fenster seltsam leer. Sie sind verschlossen, mit Brettern vernagelt. Hier wohnt niemand mehr. Die obere Bildhälfte dagegen ist in Licht getaucht, ein Licht, das ausstrahlt. Aber hier dringt nicht der Schein wohnlich erleuchteter Räume nach außen, vielmehr ein Licht, das sich wie ein verhüllender Schleier über die Szenerie legt. Der Schleier des Vergessens?
Gehen wir näher heran, schimmern vom Bildgrund einzelne Worte durch das Bildmotiv – gleich einem Menetekel erscheinen sie auf der Leinwand. Es sind Worte aus einem Gedicht von Nelly Sachs, dem auch der Bildtitel entliehen wurde:
Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich Unsere Leiber klagen noch nach Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft –
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.
Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub. Wir Geretteten Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Lasst uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen –
Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund Es könnte sein, es könnte sein Daß wir zu Staub zerfallen Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Was hält denn unsere Webe zusammen?
Wir odemlos gewordenen,
Deren Seele zu Ihm floh aus der Mitternacht Lange bevor man unseren Leib rettete In die Arche des Augenblicks.
Wir Geretteten,
Wir drücken eure Hand,
Wir erkennen euer Auge –
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,
Der Abschied im Staub
Hält uns mit euch zusammen.
Nelly Sachs schrieb dieses Gedicht als Überlebende des Holocaust, als Verfolgte, der im buchstäblich letzten Moment – der Befehl zur Deportation in ein Vernichtungslager lag bereits vor. Vor diesem Hintergrund erschließen sich neue Bedeutungsebenen für die einzelnen Bildkomponenten. Die Gleise symbolisieren den Weg der Deportierten in die Konzentrationslager, die verlassenen Häuser zeugen noch von ihrem früheren Leben, erinnern an die vertriebenen Bewohner. Das Feuer verweist sowohl auf deren Schicksal in den Vernichtungslagern als auch auf die alles zerstörenden Feuerstürme des Krieges. Der Verlust der Menschlichkeit führt in Zerstörung und Vernichtung.
Schrift als gestalterisches Element erscheint noch in zwei weiteren Arbeiten in diesem Raum. Zum Einen wird sie als Verdichtung von Linien visualisiert, die Schrift als solche sinnbildlich andeuten, ohne das diese explizit lesbar wäre. Zum Anderen findet sie sich in einem Triptychon an der Wand zum Flur, das Bezug nimmt auf eine zentrale Erzählung aus dem Alten Testament. Im 2. Buch Mose, Kapitel 3, heißt es:
Mose aber hütete die Schafe [. . .] Da erschien ihm der Engel des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Und als er hinsah, siehe, da brannte der
Dornbusch im Feuer, und der Dornbusch wurde doch nicht verzehrt. [. . .] Als aber der HERR sah, daß er hinzutrat, um zu schauen, rief ihm Gott mitten aus dem Dornbusch zu und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich! [. . .] Und er sprach: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs! Da verbarg Mose sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
Im Kapitel 24 heißt es weiter:
Und der HERR sprach zu Mose: Steige zu mir herauf auf den Berg und bleibe dort, so will ich dir die steinernen Tafeln geben und das Gesetz und das Gebot, das ich geschrieben habe, um sie zu unterweisen!
Im Zentrum der bildnerischen Umsetzung, die sich in ihrem Aufbau an einem Altarbild orientiert, steht der brennende Dornbusch, jene Szene in der Gott sich Moses zu erkennen gibt und ihm den Auftrag erteilt das Volk Israels aus Ägypten herauszuführen. Rechts und links erscheinen die beiden Gesetzestafeln, die Gott dem Moses am Sinai übergibt. Sie enthalten die zehn Gebote, deren Einhaltung ein gottesfürchtiges, gutes Leben kennzeichnen sollen. Wieder prägt ein starker Hell-DunkelKontrast, akzentuiert durch das Feuer, die Bildsprache – hier jedoch ist es das göttliche Feuer, das an die Einhaltung der Gebote mahnt. Darin heißt es gleich zu Beginn: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben …
Damit leitet uns die Künstlerin in den letzten Raum. Hier zieht in der linken Raumhälfte eine Bildserie die Aufmerksamkeit auf sich, in der Gold Akzente setzt. Eine goldene Treppe, ein goldener Fingerzeig, ein goldenes Schriftzeichen – das chinesische Zeichen für Frieden. Die Künstlerin spielt mit dem Symbolgehalt der Farbe, diese signalisiert die hohe Wertschätzung, aber auch den monetären Wert, den wir einer Sache zuschreiben. So schwingen stets mehrere Fragen an die Betrachter mit: Welche Dinge sind uns wichtig? Welche Dinge, die wir wertschätzen, verstellen uns den Blick auf die wahren Werte im Leben? Tanzen wir um das goldene Kalb?
Welche Schwierigkeiten und Hindernisse sind es, die die Suche nach dem guten Leben erschweren? Eine bildnerische Antwort darauf findet sich in der rechten Raumhälfte, hier sind vor allem zwei Arbeiten in extremem Hochformat, – rot- bzw. blaugrundig – zu nennen. In vielen Schichten hat die Künstlerin die Farben aufgebracht, in einzelnen Partien wieder abgetragen, durch Beimischungen von Marmormehl und Sumpfkalk die Materialität der Farbe reliefartig ins Räumliche gesteigert. Entstanden ist eine raue, rissige Oberfläche, gezeichnet von zahlreichen Verletzungen, Vernarbungen, Schrunden. Sie verweisen als Sinnbilder auf die Verkrustungen der menschlichen Seele, den Verlust an Empathie, der hart und kalt werden lässt, der die Seele verbrennt.
Wandel ist möglich, denn Leben heißt Veränderung. Oder wie Walt Whitman (1819 – 1892) formulierte: Der Veränderung die Tür verschließen, hieße das Leben selber aussperren.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Zwei Arbeiten von Heidi Hielscher hier im Foyer setzen den Schlusspunkt bei unserem Rundgang. Beide sind unabhängig voneinander entstanden und doch verbindet sie ihre innere Dynamik. In einer Wellenbewegung, die von einem Bild zum andern überspringt, rückt die Künstlerin noch einmal die Grundlage ihres Schaffens in den Blickpunkt – der Wandel als Grundkonstante allen Lebens und des Menschen im Besonderen:
Wer weiß, wer ich bin? Ich wandle und wandle mich. (Rainer Maria Rilke, 1875 – 1926)
Damit stellt sich die Frage der menschlichen Individualität, nach der Identität des Einzelnen. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass auf den Bildern von Heidi Hielscher keine Menschen zu finden sind. Aber damit steht die Künstlerin in der Nachfolge der niederländischen und flämischen Meister und ihrer Vanitas-Stillleben. Auch sie bilden den Menschen nicht selbst ab, wohl aber all jene Dinge, die sein Leben beschreiben, prägen, symbolisieren: fragile Gläser, kunstvoll gestaltetes Silber, kostbare Stoffe, kulinarische Köstlichkeiten in Hülle und Fülle. Schaut man genauer hin, entdeckt man die Fragezeichen, die Fingerzeige der Vergänglichkeit: überreifes Obst, Fliegen, die als Aasfresser die Köstlichkeiten umschwirren, Maden, die aus Früchten herauskriechen. Inmitten aller üppigen Pracht ist Vergänglichkeit präsent.
Vergänglichkeit ist eines der großen Themen in der europäischen Kunstgeschichte, Heidi Hielscher variiert dieses Thema und verknüpft es mit dem Thema der Moderne
– mit dem Wandel. Veränderung und Wandel sind Grundkonstanten des Lebens. Die
Künstlerin konfrontiert uns – ganz im Sinne der Vanitas-Stillleben – mit unserer Vergänglichkeit und mit dem steten Wandel, bezieht uns als Publikum in den künstlerischen Prozess mit ein. Kunst ist für sie nicht Kunst um ihrer selbst willen, sondern ein Mittel, in den Dialog einzutreten: Erkennen wir die Veränderungen? Nehmen den Impuls des Wandels auf? Gestalten wir den Wandel oder geht der Wandel über uns hinweg. Für Heidi Hielscher ist Kunst immer auch Botschaft:
Kunst ist nur ein Weg, nicht ein Ziel. (Rainer Maria Rilke)